Weihnachtsengel

Mit dem Tannenbäumchen begann es. Eines Tages, noch ehe die Geschäfte in meiner Straße ihre Türen öffneten, standen da verschlossen Buden wie Siegel, die die ganze Straße wie große Weihnachtspakete an hundert Ecken und Kanten zu sichern schienen.  Am Samstag vor dem dritten Advent barsten sie und Spielzeug, Früchte, Naschereien und Baumschmuck quollen aus ihrem Innern: Weihnachtsmarkt

 Mit ihnen quoll noch etwas anderes hervor. Die Armut. Da stehen Jugendliche und verkaufen Orangen, für arme, vom Hungergeplagte Kinder in Afrika, Landfrauen verkaufen selbst gestrickte Socken für Bedürftige in der Gemeinde. So mancher von uns satten „Reichen“, der vorbei kommt, kauft Orangen oder gibt ein Almosen für die Armen und Bedürftigen in unserer Welt, aber die meisten gehen vorbei. Ach, wäre doch jeder einmal ein Engel für Bedürftige!

Inzwischen stand der Weihnachtsbaum bereits auf dem Balkon, den ich auf dem Markt besorgte um ihn ins Zimmer zu bringen, zu rechten Zeit. Und wunderbar als alles, was das Kerzenlicht im gab, war, wie das nahe Fest in seine Zweige mit jedem Tage dichter sich verspann. Im Hof gegenüber begann ein Leierkastenmann die letzte Frist mit Chorälen zu dehnen. Endlich war sie doch verstrichen und einer jener Tage wieder da, an deren frühestens ich mich hier erinnere. In meinem Zimmer warte ich, bis es sechs werden wollte. Kein Fest des späteren Lebens kennt diese Stunde, die wie ein Pfeil des Tages zittert. Es war schon dunkel, trotzdem schaltete ich die Lampe nicht ein, um den Blick von den dunklen Fenstern im Nachbarshof zu wenden, hinter denen nun die ersten Kerzen zu sehen waren. Es war von allen Augenblicken, die das Dasein des Weihnachtsbaum hat, der herrlichste, in dem er Nadeln und Geäst dem Dunkel opfert um nichts zu sein als ein unnahbares und doch nahes Sternbild im trüben Fenster eines Nachbarhaus über dem Hof. Doch wie ein solches Sternbild hin und wieder eins der verlassenen Fenster begnadete, in dessen viele andere dunkel blieben und andere, noch trauriger, im Licht der Straßenlaterne des frühen abends verkümmern, schien mir, dass diese weihnachtlichen Fenster die Einsamkeit, das Alter und das Darben  – all das, von dem ich oft mal schweige – in sich fasst. Nun fiel mir die Bescherung bei meiner Tochter ein, es war Zeit sich auf den Weg zu machen. Kaum aber hatte ich so schweren Herzens wie nur die Nähe  eines sicheren Glücks es macht, mich vom Fenster abgewandt, die Tür geöffnet, so spürte ich eine fremde Gegenwart im Raum. Es war nichts als ein Wind, so dass sich die Worte, die sich auf meinen Lippen bildeten, wie Falten waren, die ein träges Segel plötzlich vor einer frischen Brise wirft.

 Alle Jahre wieder
kommt das Christuskind
auf die Erde nieder
wo wir Menschen sind

–  mit diesen Worten hatte sich der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden, auch verflüchtigt.

 

Ich fuhr zur Tochter, bei  der nun ein Baum die Glorie eingegangen war, welcher in mir Gefühle der Dankbarkeit für frühere Weihnachten bescherte.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

6 Kommentare zu Weihnachtsengel

Kommentare sind geschlossen.